Julius Steinberg, »›Sein‹ oder ›Sollen‹? Das Hohelied zwischen Sexualanthropologie und Sexualethik«, in: Tina Arnold, Walter Hilbrands und Heiko Wenzel, Hrsg., ›HERR, was ist der Mensch, dass du dich seiner annimmst …?‹ (Ps 144,3): Beiträge zu biblischen Menschenbild, FS H. Pehlke (Witten: SCM, 2013), 187–207
1. Das Problem der sexualethischen Engführung
Kürzlich hielt ich vor Pastoren einen Vortrag über Sexualität im Alten Testament mit Schwerpunkt auf dem Hohenlied Salomos. Im Anschluss stellte einer der Zuhörer die folgende Rückfrage: „Aber es ist doch so, dass nach der Bibel Sexualität ausschließlich im Rahmen der Ehe erlaubt ist, oder etwa nicht?“ Der leicht verärgerte Unterton in seiner Stimme machte deutlich, dass ich seiner Meinung nach einen wichtigen Aspekt unterschlagen hatte.
Wie auch immer man die Erwartungen an einen solchen Vortrag einschätzen mag – die Rückfrage ist auch symptomatisch für eine bestimmte christliche Haltung zum Thema. Gerade im freikirchlichen Bereich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was die Theologie zur Sexualität des Menschen zu sagen hat, hauptsächlich deren Grenzen und Problemfälle betrifft. Und zwar gilt das sowohl für Gemeinden, in denen die klassischen christlichen Moralvorstellungen weiter mit Überzeugung verkündigt werden, als auch für solche Gemeinden, die mit einer augenscheinlich „offeneren“ Haltung eine wachsende Verunsicherung gegenüber traditionellen Werten verdecken.[1]
Hinter beiden Ausprägungen steht die gleiche defensive Grundhaltung: Zum einen möchte man christliches Reden über Sexualität immer verknüpft wissen mit dem Reden über Sexualethik. Zum andern versteht man unter Sexualethik in erster Linie das Abstecken von Grenzen des Erlaubten. Beides sind Engführungen, die der gesamtbiblischen Behandlung der Sexualität nicht gerecht werden. Es fehlt die positive schöpfungstheologische (alttestamentliche!) Grundlegung zum Thema, ohne die alles – notwendige – Reden von Grenzen hohl bleiben muss.
Die Frage „Gehört Sexualität nicht ausschließlich in die Ehe?“ und die dahinterstehende Haltung hat auch die komplizierte Rezeptionsgeschichte des Hohenliedes Salomo mitgeprägt, oder, besser gesagt: Sie hat die entscheidenden Probleme der Hoheliedrezeption erst verursacht. Immer wieder lässt sich nämlich beobachten, dass das Hohelied Erwartungen nicht erfüllt, die Ausleger an es richteten und richten. Offensichtlich handelt das Lied von der Liebe zwischen Mann und Frau. Diese wird sogar ausgiebig gefeiert. Jedoch bringt das Lied weder zum Ausdruck, dass menschliche Liebe als Abbild der Liebe Gottes zu verstehen sei, noch behandelt es offensichtlich moralische Grenzziehungen.
Diese enttäuschte Erwartung führt zu einer Reihe unterschiedlicher Hoheliedrezeptionen:[2]
- An erster Stelle ist die Allegorie zu nennen. Dass das Hohelied oft allegorisch ausgelegt wurde und wird, lässt sich auf mehrere Faktoren zurückführen. Einen ersten Anstoß gibt sicherlich die schwierige Bildsprache, die zu Spekulationen geradezu einlädt. Im christlichen Bereich ist zweitens die christologisch-allegorische Rezeption des Alten Testaments insgesamt zu nennen. Hierbei setzte man im Hohenlied nur das fort, was man an anderen Texten bereits eingeübt hatte. Für den jüdischen Bereich gilt Analoges, bezogen auf die Auslegungsmethoden Peschat und Derasch. Weiterhin hat die Tatsache zu Irritationen geführt, dass bei einer wörtlichen Auslegung die für ein biblisches Buch zu erwartenden Gottesbezüge weitgehend fehlen (bis auf Hld 8,6). Der entscheidende Faktor ist jedoch ohne Zweifel die gefühlte sexualethische Diskrepanz zwischen einem wörtlich verstandenem Hohenlied und dem Rest des biblischen Kanons. Enthielte das Hohelied auch nur einen kleinen Bestand an konkreten sexualethischen Grenzziehungen, ein „Ja, aber…“ zur Sexualität, wäre die allegorische Auslegung wahrscheinlich niemals entstanden.[3]
- Ausleger, die die Allegorie ablehnen, kommen oft zu der Einschätzung, das Hohelied sei eine Sammlung „profaner“ Liebeslieder. Auf die vermissten moralischen Stellungnahmen reagieren sie, indem sie den Versuch, das Hohelied als eine Quelle alttestamentlicher Theologie zu verstehen, überhaupt aufgeben. In älterer Zeit bedeutete das, die Kanonzität des Hohenliedes in Frage zu stellen,[4] heute sind in der Bibelwissenschaft historische Herangehensweisen auch unabhängig von der Kanonfrage möglich.[5]
- Wieder andere erheben das moralische Schweigen des Hohenliedes zu dessen Programm. Das Buch sei gerade mit der Absicht geschrieben worden, die Sexualität von ihrer Einengung durch gesellschaftliche Normen zu befreien.[6]
- Lässt sich das Hohelied wörtlich interpretieren und zugleich in den Rahmen der klassischen biblischen bzw. christlichen Sexualethik verorten? Die Absicht der theologisch konservativen deutschen und amerikanischen Ausleger, die dieser Linie folgen, ist gut nachvollziehbar, die Umsetzung gelingt jedoch nicht ohne Mühe. Am Kommentar von G. Maier lässt sich dies beispielhaft nachvollziehen. Maier sieht sich genötigt, im Prozess der Kommentierung fortwährend moralische Klärungen und Einordnungen vorzunehmen. Schon zu den ersten drei Versen (1,2-4) finden sich davon drei: Mit dem „Küssen“ könne auch der Begrüßungskuss unter Verwandten gemeint sein; der Genuss von „Wein“ berge auch Gefahren; bei dem königlichen „Gemach“ handle es sich um das Brautgemach.[7] Die Reihe ließe sich leicht fortsetzen. Der Ausleger steht hier nicht nur wie bei anderen biblischen Büchern vermittelnd zwischen dem jahrtausendealten Text und dem heutigen christlichen Leser, es drängt sich vielmehr auch der Eindruck auf, er müsse den Leser vor dem Text schützen – oder, je nach Perspektive, den Text vor dem Leser.
Eine von moralischen Grenzziehungen bestimmte Sicht auf die Sexualität[8] kann dem Hohenlied Salomos offensichtlich nicht gerecht werden – ebensowenig wie sie Gemeinden im 21. Jh. hinreicht, tragfähige biblische Überzeugungen zum Thema zu gewinnen und zu vermitteln. Eine umfassendere Betrachtungsweise ist notwendig.
Meiner Ansicht nach legt uns die Bibel mit dem Hohenlied Salomos ein Beispiel für eine solche ganzheitliche Betrachtungsweise vor. Das Hohelied vereint anthropologische und ethische Gesichtspunkte der Sexualität zu einem Gesamtbild, und zwar unter der leitenden Perspektive der Weisheit.
[1] Zur Problematik siehe z.B. Ulrich Eibach, Liebe, Glück und Partnerschaft: Sexualität und Familie im Wertewandel (Wuppertal: Brockhaus, 1996), 13; 36-41.
[2] Für den Forschungsüberblick siehe z. B. die beiden aktuellen Habilitationsschriften zum Hohenlied: Stefan Fischer, Das Hohelied Salomos zwischen Poesie und Erzählung: Erzähltextanalyse eines poetischen Textes, FAT 72 (Tübingen: Mohr Siebeck, 2010), und Meik Gerhards, Das Hohelied: Studien zu seiner literarischen Gestalt und theologischen Bedeutung (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2010).
[3] Zur Kritik an der Kritik der allegorischen Auslegung siehe allerdings ebd., 442-445.
[4] Z.B. Theodor von Mopsuestia und Sebastian Castellio, nach Gerhard Maier, Das Hohelied, Wuppertaler Studienbibel (Wuppertal: Brockhaus, 1991), 21; G. Lloyd Carr, The Song of Solomon: An Introduction and Commentary, TOTC 17 (Leicester: Inter-Varsity, 1984), 52.
[5] Beispielsweise behandelt Gillis Gerlemann, Ruth. Das Hohelied, BKAT 18 (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1965), die theologische Bedeutung des Hohenliedes auf gerade einmal knapp über einer Seite (S. 84).
[6] Z.B. Hans-Josef Heinevetter, ›Komm nun, mein Liebster, Dein Garten ruft Dich!‹: Das Hohelied als programmatische Komposition, BBB 69 (Frankfurt a.M.: Athenäum, 1988), z.B. 189.
[7] Maier, Hoheslied, 37-39.
[8] Eine solche wird, auf das gesamte AT bezogen, auch an dem umfangreichen Werk von R. Davidson sichtbar, das sich mit Grenzziehungen in den Bereichen Monogamie, Heterosexualität, Ehe usw. befasst. Die sexualethische Ausrichtung des Buches wäre an sich kein Problem, wenn nicht der Untertitel „Sexuality in the Old Testament“ lauten würde. Richard M. Davidson, Flame of Yahweh: Sexuality in the Old Testament (Peabody, Massachusetts: Hendrickson, 2007).
2. Das Hohelied, Sexualität und Weisheit
Meiner Ansicht nach ist das Hohelied Salomos als ein Werk der alttestamentlichen Weisheit zu verstehen. Dies möchte ich im folgenden kurz darstellen.[1] Dafür muss in einem ersten Schritt umrissen werden, was die alttestamentliche Weisheit in ihrem Denkansatz eigentlich ausmacht. In einem zweiten Schritt sollen dann Merkmale dieses Denkens am Hohenlied aufgezeigt werden.
Für den weisheitlichen Ansatz beziehe ich mich u.a. auf die Arbeit von Thomáš Frydrych zum Sprüchebuch.[2] Vier Charakteristika sind meiner Meinung nach zu nennen:
- a) Empirische Epistemologie: Der Weise erwirbt sein Wissen aus der eigenen oder gesammelten Erfahrung. Anstelle eines „so spricht der HERR“ oder „es steht geschrieben“ heißt es in der Weisheit „ich habe gesehen“ (z.B. Spr 7,6f; Pred 1,14) oder „Hört, Söhne, auf die Mahnung des Vaters“ (z.B. Spr 4,1-4; vgl. Hi 8,8-10).
- b) Paradigmatischer Ansatz: Der Weise strebt danach, aus der Beobachtung des Individuellen das Typische herauszuschälen. Er interessiert sich für wiederkehrende Muster, z.B. im zwischenmenschlichen Geschehen. Er schematisiert bewusst, um die Übertragbarkeit auf andere Situationen zu ermöglichen.
- c) Verbindung von Wissen und Leben: Weisheit handelt vom Leben, sie sucht nach Erkenntnis, die zu einer gelingenden Lebensgestaltung verhilft. Der Mensch strebt danach, sich in seinen Beziehungen zu Gott, zu Menschen und zur Natur zu verstehen und sein Leben in diesen Beziehungen zu gestalten. Auch die Fragen nach den Grenzen der Erkenntnis und des Lebens werden behandelt (letzteres z.B. Spr 3,5-12; Hi; Pred; Gen 2f).
- d) Rückbindung an den alttestamentlichen Gottesglauben: Hier ist zum einen der Mottosatz der Weisheit zu nennen: „Die Furcht Jhwhs ist der Anfang der Weisheit“ (Spr 1,7 u.ö.). Er stellt das Alleinstellungsmerkmal der biblischen Weisheit gegenüber der seiner Umwelt dar. Dazu kommt eine schöpfungstheologische Rückbindung, indem nämlich die Weisheit dem göttlichen Schöpfungshandeln zugeordnet wird (Spr 8,22-31): Die Schöpfung ist voll göttlicher Weisheit; wer ihre Ordnungen beobachtet, kann an göttlicher Weisheit teilhaben.
Im Hinblick auf das Hld lässt sich auf diesem Hintergrund das Folgende feststellen:
- Wenn die Weisen typisches zwischenmenschliches Geschehen beobachten, um zu gelingendem Leben anzuleiten, dann fällt selbstverständlich auch die Liebe zwischen Mann und Frau in ihr Ressort. Von allen Beziehungen, in denen der Mensch steht, ist die zwischen Mann und Frau ohne Frage eine der Bedeutsamsten. Auch die Weisheit des Sprüchebuches befasst sich an einer ganzen Reihe von Stellen mit diesem Thema.
- Es entspricht der oben beschriebenen weisheitlichen Epistemologie, dass sich das Hohelied seinem Thema empirisch nähert. Über weite Strecken werden Beobachtungen wiedergegeben, die für sich stehen und für sich selbst sprechen. Dargestellt wird dabei nicht eine einmalige historische Liebesgeschichte, sondern – entsprechend dem paradigmatischen Zugang – beispielhaft verschiedene Facetten[3] dessen, was eine sich entwickelnde Liebesbeziehung typischerweise ausmacht.
- Die weisheitliche Frage nach dem gelingenden Leben ist in der wiederkehrenden Beschwörungsformel des Hohenliedes explizit aufgenommen (2,7; 3,5; 8,4; vgl. 5,8): „Ich beschwöre euch … dass ihr nicht weckt, dass ihr nicht erregt die Liebe, bis es ihr gefällt!“ Der Leser wird an dieser Stelle auf die „Eigengesetzlichkeiten“[4] der Liebe verwiesen. Typisch weisheitlich geht es darum, die der Schöpfung und hier der Liebe innewohnenden Gesetzmäßigkeiten nachzuvollziehen und sich entsprechend zu verhalten, damit die eigene Liebesbeziehung gelingt. Die Aussage wird uns im Rahmen der Ethik des Hohenliedes noch beschäftigen.
- Der abschließende Höhepunkt des Liedes, der Treueschwur der Geliebten in 8,6b-7, ist mit einer Aussage verbunden, die auch von der Form her typisch weisheitlich ist. Die im Hohenlied gesammelten Beobachtungen über das gegenseitige Verlangen der Partner werden hier zu einer abschließenden Reflexion zusammengefasst. Nur an dieser Stelle meldet sich der Weisheitslehrer gewissermaßen selbst zu Wort.
- Dieselbe Stelle deutet auch einen schöpfungstheologischen Bezug an, und zwar in dem (in seiner Deutung allerdings umstrittenen) Wort hy“t.b,h,l.v; „Flamme Jahs“ sowie in der Aussage über die Liebe als Urmacht und Lebensmacht, die sich dem Tod gegenüberstellt. Die Gartenmetapher in 4,12-5,1 und die Aussage über das Verlangen in 7,11 knüpfen möglicherweise gezielt an Gen 2f an. Der thematische Bezug zu den schöpfungstheologischen Texten ist in jedem Fall gegeben.
- Dazu kommt gewissermaßen als „äußeres“ Merkmal die Zuordnung des Buches zu Salomo, dem kanonischen „Vater“ der Weisheit – die übrigens dazu geführt hat, dass das Hohelied in den unterschiedlichsten historischen Formen von Kanon mit großer Regelmäßigkeit einer Gruppe weisheitlicher Schriften zugeordnet wurde. Die beinahe einzige Ausnahme bilden die jüdischen Kanonstrukturen mit gruppierten Megillot. Das Konzept „Weisheitsliteratur“ stellt somit auch den hauptsächlichen kanonisch-intertextuellen Bezugspunkt für das Hohelied dar.[5]
- Daneben lässt sich im Hohenlied noch eine weitere, bisher nicht erwähnte Schattierung von Weisheit ausmachen, nämlich die sog. „Listenweisheit“. Es handelt sich um das auch außerbiblisch belegte Interesse der Weisheit, Phänomene zu sammeln und zu katalogisieren. In 1Kön 5,13 wird Salomos Weisheit im Sinne der Listenweisheit charakterisiert. Im Hiobbuch ist besonders die erste Gottesrede ein Beispiel für dieses Interesse. Das Hohelied listet gewissermaßen all das auf, was geeignet ist, die Liebe im Bild zu umschreiben: verschiedenste Pflanzen, die für Kostbarkeit, Genuss und Erotik stehen, kostbare Materialien, geheimnisvolle Orte sowie diverse andere kulturelle Symbole des Lebens und der Liebe.
[1] Die ausführliche Argumentation findet sich in meinem von Helmuth Pehlke herausgegebenen Kommentar zum Hohenlied der Reihe Edition C (Erscheinungstermin voraussichtlich Herbst 2013), daneben siehe Steinberg, „Kanonische ‚Lesarten‘ des Hohenliedes“, in „Der Kanon im Werden“, SBS, Stuttgart: Kathol. Bibelwerk (Erscheinungstermin voraussichtlich im Herbst 2013), 167-186; ferner Julius Steinberg, »Gottes Ordnungen verstehen und leben: Eine Theologie der alttestamentlichen Weisheit«, in: Herbert H. Klement und Julius Steinberg, Hrsg., Themenbuch zur Theologie des Alten Testaments (Wuppertal: Brockhaus, 2007), 211–236.
[2] Tomáš Frydrych, Living under the Sun: Examination of Proverbs and Qoheleth, VT Supp 90 (Leiden u.a.: Brill, 2002), 18; 52; 80.
[3] Andreas Wagner, »Das Hohe Lied: theologische Implikationen seines literarischen Charakters als Sammlung von Liebesliedern«, ZAW 119 (2007), 539–555, S. 549.
[4] Othmar Keel, Das Hohelied, Zürcher Bibelkommentare, AT 18 (Zürich: Theologischer Verlag, 1986), 89.
[5] Ausführlich in Steinberg, „Kanonische Lesarten“, 169-176.
3. Das Hohelied und das „Sein“ der Sexualität
Die Bereiche der theologischen Sexualanthropologie und der Sexualethik lassen sich heuristisch voneinander abgrenzen über die Unterscheidung zwischen „Sein“ und „Sollen“.[1] Beschreibt nun das Hohelied das, was ist, oder das, was sein soll? Die Antwort lautet „sowohl als auch“ – und problematisiert zugleich die Frage. Denn eine kategoriale Trennung von Sein und Sollen in zwei Wirklichkeitsbereiche (David Hume) ist dem Denken der alttestamentlichen Weisheit fremd. Aber wie kann dann weitergegangen werden? Hilfe kommt von einer unerwarteten Seite: Einige Gedanken Friedrich Schleiermachers sollen dazu nutzbar gemacht werden, um das Anliegen der Weisheit und des Hohenliedes in einem Bereich zwischen „Sein“ und „Sollen“ zu verorten.
Begonnen werden kann gleichwohl mit der Darstellung des beobachteten „Seins“ der Sexualität im Hohenlied, und zwar zum einen methodisch nach der Art des Beobachtens und zum andern material nach dem Inhalt des Beobachteten.
[1] Faktisch besteht eine gewisse Überlappung, insofern als Ethik deskriptiv mit der Ethologie (Verhaltensforschung) einsetzt bzw. einsetzen kann, vgl. Wolfgang Lienemann, Grundinformation Theologische Ethik (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008), 18; Helmut Burkhardt, Einführung in die theologische Ethik: Teil 1: Grund und Norm sittlichen Handelns (Gießen u.a.: Brunnen, 1996), 15f.
3.1 Der Modus des Beobachtens
Der weisheitliche Zugang setzt, wie oben gesagt, mit dem Beobachten ein. Bemerkenswert ist bereits der Modus, mit dem dies im Hohenlied geschieht. Wird nämlich der Akt des Beobachtens reflektiert, so entsteht ein Subjekt-Objekt-Verhältnis und eine „kritische Distanz“. Zudem wird der Beobachter durch das Beobachten zum Teil des Systems. Dieser Zusammenhang ist beispielsweise in Spr 7,6ff bewusst aufgenommen, wo der Weisheitslehrer sich selbst am Fenster stehend beschreibt, während er beobachtet, wie sich auf der Straße ein junger Mann einer Prostituierten nähert. Hierbei entspricht die Distanz des Beobachters auch einer inneren Distanz des Sich-Absetzens vom moralisch verwerflichen Geschehen. Zugleich wird dem sich offenbar unbeobachtet wähnenden Mann gerade die Tatsache zum Verhängnis, dass er in Wirklichkeit beobachtet wird.
Wenn es darum geht, das Geschehen der Liebe zwischen Mann und Frau zu beschreiben, kann die Beobachterrolle zum Problem werden. Mit dem Blick von außen, etwa durch die Betrachtung eines Liebesaktes, lässt sich kaum verstehen, was Liebe ist. Auch würde ein offen vorgehender Beobachter die Atmosphäre zwischen den Liebenden empfindlich stören, während ein versteckter des Voyeurismus zu beschuldigen wäre. – All diese Stolperfallen lassen sich übrigens leicht an einer beliebigen „Wissenschaftsdoku“ zum Thema studieren.
Die Weisen jedenfalls tun gut daran, nicht in der Form „Ich sah zwei Liebende…“ zu argumentieren. Sie benötigen vielmehr eine Perspektive, die das innere mentale Geschehen erschließt und zugleich die Beobachterrolle ausblendet. Das Hohelied wählt dafür die Form der wörtlichen Rede der Liebenden, die ihre inneren Zustände selbst reflektieren. Technisch gesprochen handelt es sich um eine homodiegetische und intern fokalisierte Erzählperspektive.[1]
Kommentierungen aus externer Sicht werden dadurch weitgehend unnötig – und auch unmöglich, wenn die Perspektive nicht durchbrochen werden soll. Schon deshalb ist das Hohenlied nicht der geeignete Ort, um heteronome moralische Prinzipien zu erörtern. Dass die alttestamentlichen Weisen moralische Grenzziehungen ansonsten durchaus für wichtig erachten, zeigen zum Beispiel die vielen Warnungen vor Ehebruch im Sprüchebuch.
Durch den besonderen Modus des Beobachtens nähert sich das Hohelied dem „Sein“ der Liebe auf eine einmalige, unmittelbare Art und Weise.
[1] So Fischer, Hoheslied, 160f.
3.2 Die Liebe als Garten
- Wannenwetsch charakterisiert die Sexualität als einen „gewährten Daseinsraum“.[1] Gemeint ist damit, dass unsere Geschlechtlichkeit uns einen Raum eröffnet, in dem wir uns bewegen können. Angelehnt an Hld 4,12-5,1 lässt sich dieser Raum auch als »Garten« der Liebe bezeichnen. Das Hohelied lädt ein, den Garten der Liebe zu entdecken, indem es in seinen einzelnen Episoden verschiedene Facetten und Themenbereiche des Liebesgeschehens vorstellt. Einige davon sollen im Folgenden kurz genannt werden.[2]
- Das Hohelied beschreibt verschiedene Gefühle rund um die Liebe, etwa die aufgeregte Verliebtheit (z.B. 1,2-4), das „Kranksein vor Liebe“ (2,5), die Erregung („Aufwallen der Eingeweide“ 5,4), das tiefe innere Bedürfnis nach dem Partner („den meine ‚Seele‘ liebt“ 1,7), aber auch das Erschrecktsein vor der beeindruckenden Aura des anderen (6,4f.10), das Außer-sich-sein über den Verlust („meine ‚Seele‘ ging hinaus“ 5,6). Über allem stehen im Hohenlied die Sehnsucht und das Verlangen (8,1-3).
- Das Hohelied zeigt, wie Liebende einander mit Worten begegnen, wie Worte Beziehung aufbauen, z.B. durch den Austausch von Komplimenten (1,9-2,3) durch die sich die Partner Schritt für Schritt einander annähern und sich gegenseitig ihrer Zuneigung versichern. Es zeigt auch, wie Worte sexuelle Handlungen vorbereiten und zugleich zu einem Aspekt gelebter Sexualität werden (z.B. 7,7-13).
- Weiterhin handelt das Hohelied von der körperlichen Attraktivität, also der Schönheit und Anziehungskraft des Partners. Das kommt insbesondere in den Beschreibungsliedern zum Ausdruck, bei denen die verschiedenen Körperteile des Partners benannt und auf ihre Ausstrahlung und Wirkung hin beschrieben werden. Drei Beschreibungslieder widmen sich der Schönheit des weiblichen Körpers (4, 1-7; 6, 4-10; 7, 1-6). Aber auch der männliche Körper wird in einem Lied besungen (5, 9-16). Dabei wird der Partner bzw. die Partnerin aber nicht auf den Körper reduziert. Vielmehr bilden die Körperteile jeweils Anknüpfungspunkte, um etwas über die Person als Ganzes zu sagen.[3]
4. Nicht nur die Augen, sondern auch die übrigen Sinne sind beteiligt. K. Lüthi spricht in diesem Zusammenhang von einer auffallenden „Lustfähigkeit“ der Partner: Die Augen nehmen die Schönheit des Gegenübers wahr, die Ohren seine oder ihre liebevollen Worte. Die Liebenden sind von kostbaren Düften umgeben; die beiden berühren sich und „schmecken“ einander beim Zungenkuss (z.B. 4,11), nehmen die Liebe in sich auf wie kostbaren Wein (1,2; 5,1). Nach der griechisch-antiken Auffassung hat Schönheit in erster Linie mit Ästhetik zu tun, mit der vollendeten Form, die vom Inhalt kategorisch unterschieden wird. Im Hohenlied dagegen ist Schönheit vor allem ein „Reizerlebnis“, ein ganzheitliches Erleben der Anziehungskraft einer anderen Person.[4]
[1] Bernd Wannenwetsch, Die Freiheit der Ehe: Das Zusammenleben von Frau und Mann in der Wahrnehmung evangelischer Ethik, Evangelium und Ethik 2 (Neukirchen: Neukirchener, 1993), 1-3.
[2] Ausführlich in Julius Steinberg, »›Komm in meinen Garten …!‹: Das Hohelied Salomos und Bausteine für eine Theologie der Liebe«, Theologisches Gespräch 4 (2011), 180–208.
[3] Wie Keel, Hoheslied, ausführlich aufzeigt, beziehen sich die Vergleiche nicht in erster Linie auf die Optik, sondern auf die innewohnende Dynamik und sind zudem kulturell konnotiert.
[4] Kurt Lüthi, »Das Hohe Lied der Bibel und seine Impulse für eine heutige Ethik der Geschlechter«, ThZ 49 (1993), 97–114, 101f.
3.3 Die Liebe als Geschichte
Mit dem Bild des Gartens wird die Liebe gewissermaßen in einer räumlichen Dimension erschlossen, im Sinne von nebeneinander bestehenden Aspekten und Möglichkeiten. Neben der räumlichen spielt aber auch die zeitliche Dimension eine Rolle: Liebe bedeutet Liebesgeschehen, das Entstehen und Entwickeln von Beziehung. Auch unsere heutigen Vorstellungen von Liebe sind von Geschichten geprägt, vielleicht mehr als uns bewusst ist.[1]
Das Hohelied Salomos erzählt Geschichten von der Liebe. Es handelt sich um einzelne Szenen, die sich meiner Ansicht nach aber auch zu größeren Erzählsträngen zusammenfügen, und zwar zu der Geschichte einer romantischen Liebe und einer Liebesheirat. Auch dies soll hier nur knapp skizziert werden:
- Ein junger Mann und eine junge Frau lernen sich kennen (Erster Zyklus, 1,2-2,4). Gegen die Widerstände der Familie (1,5-6; 8,8-12) kommt es zum heimlichen Rendezvous im Grünen (Zweiter Zyklus, 2,5-17). Die Zeit des Kennenlernens ist geprägt vom Wechsel zwischen Nähe und Distanz, von versprochener Hingabe und noch ausstehender Erfüllung.
- Die Eheschließung wird dann mit einer wahrhaft königlichen Hochzeit gefeiert. Nachdem eine letzte unruhige Nacht des Wartens überstanden ist, erreicht der Bräutigam in einem festlichen Zug das Haus seiner Braut. Staunend steht er ihr gegenüber und besingt ihre Schönheit und Ausstrahlung. Er fordert sie auf, mit ihm zum Ort des Hochzeitsfestes zu kommen. Während die Hochzeitsgesellschaft noch weiter feiert, ziehen die beiden sich für ihre Hochzeitsnacht zurück und betreten gemeinsam das „Paradies der Liebe“ (Dritter Zyklus, 3,1-5,1). Die beiden Partner sind zu einer neuen, festen Einheit verschmolzen, ihre Liebe auf ewig besiegelt (8,5-7).
- Das Hohelied handelt auch von wilder Romantik, die bis an die Grenzen geht: Es erzählt von der jungen Frau, die des Nachts wie besinnungslos in den leeren Straßen der Stadt umherirrt, voll Verlangen nach ihrem Geliebten; es erzählt umgekehrt auch von der Macht der weiblichen Erotik, die der Geliebte kaum aushalten kann. Sie erzählt, wie das begierige Publikum die Braut auffordert, vor ihm zu tanzen, und von einer Liebesnacht in der frühlingshaften Natur (Vierter Zyklus, 5,2-7,13).
- Die geheimnisvolle Macht der gegenseitigen Anziehung, das Wechselspiel von Nähe und Distanz, geht mit der Hochzeit nicht zu Ende, sondern setzt sich auch danach ungebrochen fort (8,13f).
Das Hohelied ist nach dieser holistischen Interpretation also eine große Geschichte zweier Partner hin zur Liebe und Ehe, die aber auch einige kleinere Seitengeschichten enthält.[2]
[1] So die Grundthese von Robert J. Sternberg, Love Is A Story: A New Theory of Relationships (New York u.a.: Oxford University, 1998).
[2] S. Fischer erklärt beispielsweise den Bruch nach 5,1 damit, dass in 3,1-5,1 und 5,2-6,3 zwei alternative Handlungsstränge nebeneinandergestellt seien, die sich von den beiden unterschiedlichen Träumen 3,1-5 und 5,2-8 her entwickeln. Fischer, Hoheslied, 95f.
3.4 Die Liebe als Urmacht
Das „Sein“ der Sexualität wird im Hohenlied nicht nur am Beispiel beobachtet, sondern an einer Stelle auch zusammenfassend kommentiert. Dies geschieht in der weisheitlich geprägten Aussage 8,6b-7. Mehrere Vergleiche charakterisieren die Liebe als eine Urmacht im menschlichen Leben: Die Liebe ist „stark wie der Tod“, sie ist also von ihrer Tragweite her mit dem Tod vergleichbar, unausweichlich und alles bestimmend. Ja, noch mehr: In der Liebe findet der Tod ein ihm ebenbürtiges Gegenüber. Daneben werden auch Urkräfte der Natur zur Veranschaulichung herangezogen: Die Liebe ist wie eine gewaltige Flamme, die selbst von mächtigen Wassern nicht ausgelöscht werden kann. Demgegenüber kann der Versuch, die Liebe mit Geld verfügbar zu machen, nur lächerlich erscheinen. Liebe ist mit nichts anderem verrechenbar, sondern eine Größe ganz eigener Art.
Zwischen der Aussage 8,6b-7 und dem übrigen Hohenlied besteht eine doppelte Beziehung. Zum einen benennt der Weisheitssatz, was hinter all den im Hohenlied beschriebenen Facetten und Ereignissen der Liebe steht, nämlich die göttliche Urmacht der Liebe. Zum andern erläutert das übrige Hohelied den Weisheitssatz, indem es aufzeigt, wie die Urmacht der Liebe sich in ein konkretes Liebesgeschehen hinein entfaltet und entwickelt.
Gewissermaßen beschreibt das Hohelied damit das „Sein“ der Liebe als ein Kontinuum von der biologischen und psychischen Anlage der Geschlechtlichkeit hin zu deren Entfaltung im Fühlen, Wollen und Handeln der Liebenden. Es handelt sich um einen Weg, der sich von der biologischen Vorgabe (Sexus) bis hin zu den sozialen und kulturellen Konstruktionen (Gender) erstreckt – ohne dass sich an irgendeiner Stelle ein Bruch zwischen den beiden aufzeigen ließe.
4. Das Hohelied und das „Wollen“ der Sexualität
Bisher wurden die im Hohenlied zusammengestellten Geschehnisse rund um die Liebe so betrachtet, als handle es sich dabei um die reine Dokumentation eines „Seins“. Dies trifft jedoch nur teilweise zu. Die Weisen beschreiben ja nicht irgendein ihnen zufällig begegnendes Sein, sondern vielmehr ein als typisch, als ideal oder als beispielhaft gedachtes Sein. In der Beschreibung liegt daher zwar keine direkte Aufforderung, aber doch mindestens eine Einladung an den Leser, sich anhand des gegebenen Beispiels über Ereignismuster in der eigenen Liebesbeziehung bewusst zu werden und Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf eine solche Beziehung zu ergreifen. Der Begriff „Sollen“ erscheint dafür aber zu stark. Vielmehr lässt sich eine Bewegung vom „Sein“ hin zu einem „Gestaltenwollen“ erkennen.
Entscheidend für die Einordnung des Anliegens ist der schon erwähnte wiederholte Beschwörungssatz (2,7; 3,5; 8,4; vgl. 5,8):
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems,
bei den Gazellen
oder bei den Hirschkühen des Feldes:[1]
dass ihr nicht weckt,
dass ihr nicht erregt die Liebe,
bis es ihr gefällt![2]
[1] Die Gazellen und Hirschkühe sind als kulturelle Epitheta der Liebe aufzufassen. Keel, Hoheslied, 92-94.
[2] Zu der meiner Ansicht nach exegetisch nicht haltbaren Übersetzung „Stört uns nicht, solange wir uns lieben“ siehe Steinberg, Das Hohelied, Edition C, zur Stelle.
Offensichtlich benennt der Beschwörungssatz ein Prinzip für den Umgang mit der Liebe bzw. Sexualität. Wird hier also ein „Sollen“ zum Ausdruck gebracht? Den Maßstab für das richtige Handeln bildet jedenfalls keine heteronome moralische Richtlinie, sondern der Hinweis auf die Gesetze der Liebe selbst, auf das, „was der Liebe gefällt“. Das „Sollen“ wird also mit einem „Wollen“ begründet, und dies wiederum ergeht nicht von außen, sondern ergibt sich anscheinend aus der Sache selbst.
Lässt sich demnach, um das Anliegen des Hohenliedes zu erfassen, eine heuristische Kategorie des „Wollens“ einführen, die sich irgendwo auf dem Weg zwischen Sein und Sollen ansiedelt?
Eilert Herms stellt in einem Aufsatz das Problem von „Sein“ und „Sollen“ anhand von D. Hume, E. Kant und dem seiner Meinung nach bei dieser Frage oft übersehenen F. Schleiermacher dar.[1] Tatsächlich hat vor allem bei Schleiermacher das „Sollen“ seinen eigentlichen Bezugspunkt im „Wollen“ – und dieses wiederum im „Sein“. Schleiermachers Argumentationsgang[2] soll etwas genauer betrachtet und zum Hohenlied in Bezug gesetzt werden:
Ein Sollen liegt nach Schleiermacher grundsätzlich da vor, wo es um das Verhältnis zwischen zwei Willen geht, und zwar einem gebietenden Willen auf der einen Seite und einem angeredeten Willen auf der anderen Seite. Die Sollensstruktur setzt bei der angeredeten Person den Willen zum Gehorsam voraus.
Der Wille zum Gehorsam kann allerdings unterboten oder überboten werden. Unterboten wird er, wo Zwang vorliegt. Überboten wird er – und dies ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung –, „wo alle Beteiligten zu einem gemeinsamen Beschluß kommen aus eigener Einsicht in das allgemeine Wohl und in die Anforderung der Umstände“.[3] In einem solchen Fall liegt nicht mehr ein Gegenüber zwischen einem Angeredeten und einem Gebietenden vor, sondern höchstens noch ein Gegenüber von individuellem Wunsch und dem allgemein als vernünftig Angesehenen. Was „vernünftiges“ Wollen heißt, definiert Herms nach Schleiermacher wie folgt: „eine Manifestation desjenigen selbstbewussten Ausseins auf das für den Menschen Gute, das für die Menschheit konstitutiv ist, und das insofern das Gesetz ist, unter dem die Menschheit als solche existiert.“[4] Der kategorische Imperativ nach Kant wird in diesem Zuge zu einem hypothetischen Imperativ umgeformt, und zwar in der Form „Wenn du vernünftig sein willst, dann handle so…“[5] Dem Sollen wird also das auf die Vernunft verwiesene Wollen vorausgeschickt.
Wenn das Hohelied in den Beschwörungsformeln damit argumentiert, „was der Liebe gefällt“ – welcher Quelle entstammt dann der „gebietende Wille“? Exegetisch ist festzustellen, dass die Formulierung das Abstraktum hb’h]a; Liebe poetisch personifiziert, indem sie ihm einen eigenen Willen zuschreibt. Auf der Sachebene muss ein Wollen gemeint sein, das sich aus der Sache der Liebe heraus ergibt bzw. das sich dem vernünftig über Sexualität nachdenkenden Menschen gewissermaßen von selbst erschließt. Meiner Ansicht nach lässt sich hier also sehr gut an die Ausführungen Schleiermachers anknüpfen. Eine Nuancierung ist jedoch vorzunehmen: Das Verbum #px gefallen ist in der überwiegenden Zahl seiner Vorkommen im Alten Testament nicht ethisch, sondern ästhetisch konnotiert, es bezieht sich nicht auf das Gute, sondern auf das Schöne. Daraus ergibt sich: Der Maßstab, „was der Liebe gefällt“, meint das, was in Bezug auf den Umgang mit der Sexualität allgemein als glücklich machend erkannt wird bzw. anzuerkennen ist.
Der „gebietende Wille“ kommt in diesem Fall nicht aus einem Umweltverhältnis des Menschen, sondern, mit Schleiermacher gesprochen, aus dessen „Ursprungsverhältnis“.[6] Das Streben des Menschen nach dem Guten und Schönen ist ihm nämlich von der Schöpfung her bereits mitgegeben. Insofern lässt sich nicht nur die Existenz der Sexualität an sich, sondern auch das Streben des Menschen nach erfüllender Gestaltung der Sexualität auf ein schöpfungsmäßiges „Sein“ zurückführen.
Während die Kategorien von „Sein“ und „Sollen“ bei Hume praktisch beziehungslos nebeneinander zu stehen kommen (gleichwohl bleibt Humes Anliegen berechtigt, den einfachen Schluss vom Sein auf das Sollen zu problematisieren[7]), gelingt Schleiermacher damit die Reintegration von „Sein“ und „Sollen“, letzteres als Gegenstand des „Wollens“, in eine einheitliche Wirklichkeit.
Das Gefüge dieser Wirklichkeit versteht Schleiermacher im Sinne einer Hierarche, die sich vom physikalischen Sein über das belebte Sein bis hin zum Sein des Geistes bzw. der Vernunft erstreckt. Bezogen auf die Sexualität heißt dies: Je weiter man auf dem Weg von der sexuellen Anlage (Urmacht, „Gottesflamme“) bis zu ihrer Entfaltung und Ausgestaltung fortschreitet, desto größer wird der Einfluss von Wille und Vernunft. Anders als beim Tier, dessen Sexualität instinktgesteuert abläuft, ist der Mensch bekanntermaßen biologisch „unfertig“ („Mängelwesen“, A. Gehlen) und steht vor der Aufgabe und zugleich vor der Möglichkeit, seine Sexualität bewusst zu gestalten. Dieses Gestaltenwollen gehört nach Schleiermacher also mit zum „Sein“ der menschlichen Sexualität.
Damit lässt sich die Charakteristik des weisheitlichen Gestaltenwollens im Unterschied zu ethischen Konzeptionen wie einer Prinzipienethik oder dem Naturrecht, aber auch einer eudämonistischen Ethik gut erfassen:
- a) Der Weisheit des Hohenliedes geht es nicht darum, im Sinne einer Prinzipienethik das Sein von einer Außenperspektive des Sollens her in bestimmte Bahnen zu lenken (z.B.: Das Gebot sagt, dass Sexualität ausschließlich in die Ehe gehört).
- b) Ihm geht es auch nicht darum, entsprechend dem Naturrechtsgedanken von bestimmten natürlichen Gegebenheiten ausgehend einen argumentativen Überstieg vom Sein auf das Sollen vorzunehmen (z.B.: Weil Kinder zum Aufwachsen eine stabile Familie brauchen, soll die Zeugung von Nachkommen nur innerhalb der Ehe stattfinden).
- c) Eine gewisse Nähe lässt sich zwischen der alttestamentlichen Weisheit und der Ethik des Eudämonismus feststellen,[8] und zwar hinsichtlich der Zielvorgabe, Leben gelingend zu gestalten. Die alttestamentlichen Weisheitsbücher setzen sich jedoch in je unterschiedlicher Weise vom Eudämonismus ab. Während das Sprüchebuch die Frage nach dem guten Leben kategorisch in den größeren Rahmen der Gottesbeziehung stellt (Spr 1,7), thematisiert das Hiobbuch explizit den Kontrast zwischen Eudämonismus/Utilitarismus und wahrer Gottesfurcht (Hiob 1,9-11). Der Prediger stellt heraus, dass Glück nicht dem eigenen Streben entspringt, sondern darin gründet, dass das Leben als ql,xe „(Besitz-)Anteil“ von Gott gegeben ist (Pred 5,17, vgl. 2,24-26). Das Hohelied schließlich handelt nicht vom Glück als Ziel, sondern von der Liebe als einer Größe sui generis, die nicht mit etwas anderem verrechnet werden kann (Hld 8,6b-7). Keinesfalls ist jedenfalls das Glück externes Prinzip, dem das Handeln als Mittel zum Zweck dienstbar gemacht würde (z.B.: Suche dir einen Liebespartner, damit du glücklich werden kannst). Auch in diesem Fall würde ja wieder das Sein mit einem von ihm unterschiedenen Sollen konfrontiert.
d) Der Weisheit und hier insbesondere dem Hohenlied geht es vielmehr darum, das „Sein“ des Menschen auf eine ihm angemessene Weise zu gestalten und zu entfalten, also das natürlich Gegebene in das von der Vernunft als gut und schön Erkannte hinein zu entwickeln (z.B.: Die Liebe gelingt am besten und ist am schönsten, wenn man wartet, bis die richtige Zeit gekommen ist).
[1] Eilert Herms, »Sein und Sollen bei Hume, Kant und Schleiermacher«, in: Wilfrid Härle und Reiner Preul, Hrsg., Woran orientiert sich Ethik: Marburger Jahrbuch Theologie XIII, Marburger Theologische Studien 67 (Marburg: Elwert, 2001), 39–59.
[2] Nach ebd., 50-53.
[3] Ebd., 51.
[4] Ebd., 52.
[5] Ebd., 53.
[6] Ebd., 55.
[7] Dazu auch Lienemann, Ethik, 48f.
[8] Vgl. bei Burkhardt, Ethik I, 35-38.
4.2 Liebe bewusst erleben und gestalten
n diesem Sinne sind die oben unter 3.2 und 3.3 dargestellten Beschreibungen der Liebe nicht rein dokumentarischer Natur, sondern sie haben die Absicht, beispielhaft vorzuführen, wie die Paarbeziehung auf eine gelingende Weise gestaltet werden kann. Verschiedene Anliegen kommen dabei zum Ausdruck:
- Sexualität wertschätzen: Das Hohelied feiert die Liebe als eine gewaltige Schöpfungsgabe Gottes an den Menschen. Damit ordnet es der Sexualität einen hohen Stellenwert innerhalb der Schöpfungstheologie zu und grenzt sich zugleich von Ansätzen ab, die die geschlechtliche Liebe entweder sakralisieren oder aber dämonisieren wollen.
- Sexualität bewusst erleben: Das Hohelied beschreibt typische Momente im Beziehungsgeschehen zwischen Mann und Frau und hilft damit dem Leser, eine eigene Beziehung mit mehr „Achtsamkeit“ auf den Moment zu leben.
- Sexualität bewusst gestalten: Das Hohelied führt Gestaltungsmöglichkeiten vor Augen und lädt zur kreativen Nachahmung ein.
4. Sexualität gelingend gestalten: Das Hohelied stellt in seinen Momentaufnahmen überwiegend „Erfolgsmodelle“ vor, aber auch einzelne problematische Situationen. Damit lädt es ein, über den guten, gelingenden Umgang mit der Sexualität nachzudenken.
4.3 Auf den richtigen Zeitpunkt warten
Die Frage nach dem gelingendem Umgang wird in besonderer Weise in der Beschwörungsformel gestellt, die hier noch ein drittes und letztes Mal anzusprechen ist, und zwar auf ihre materiale Aussage hin. Die Formel warnt davor, die Liebe zu wecken, bevor die richtige Zeit gekommen ist. Durch ihre zyklische Wiederkehr weist sich die Aussage als eine Art Mottosatz für das gesamte Hohelied aus. Die einzelnen Perikopen mit ihrem Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe, zwischen Erwartung und Erfüllung interpretieren den Mottosatz und werden durch ihn interpretiert.[1]
Damit wird – besonders bei einer holistischen Interpretation des Hohenliedes – deutlich, dass die Frage nach der richtigen Zeit nicht auf einen spezifischen einzelnen Zeitpunkt zu beziehen ist (etwa „das erste Mal“), sondern den gesamten Prozess der wachsenden Beziehung meint. Vom Kennenlernen über das erste Rendezvous bis hin zur Hochzeit, von der Begegnung über verschiedene Stadien der Intimität bis hin zur sexuellen Vereinigung geht es immer wieder darum, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Jede Phase der Beziehung will jeweils entsprechend ihrer Gegebenheiten ausgekostet und ausgestaltet werden.
Im Zusammenhang damit ist die kleine Geschichte von der Weinberghüterin und ihren Brüdern anzuführen, die in 1,5-6 beginnt und in 8,8-12 abgeschlossen wird und so das Hohelied deutend umgreift.[2] Hier erzählt die junge Frau zunächst davon, dass ihre älteren Brüder sie zwingen, einen Weinberg zu hüten. Dadurch wird sie abgehalten, ihren eigenen „Weinberg“ zu hüten, d.h. ihre eigenen Interessen in Sachen Liebe zu verfolgen. Zum Ende des Liedes setzt sie sich dann aber gegen ihre Brüder durch. Die Geschichte thematisiert also die Entwicklung vom Mädchen zur Frau und die damit zusammenhängende Loslösung von den vormaligen Autoritätspersonen. Wie in den wiederholten Mottosätzen geht es auch hierbei um die Frage nach dem richtigen „Timing“.
[1] Zur literarischen Struktur des Hohenliedes siehe Julius Steinberg, Die Ketuvim: Ihr Aufbau und ihre Botschaft, BBB 152 (Hamburg: Philo, 2006), 347-363.
[2] Die Verbindung wird nicht immer gesehen, aber z.B. auch bei Gerhards, Hoheslied, 206-231.
1,5-6 Das Mädchen hütet, auf Betreiben der Brüder,
die Weinberge anderer, aber nicht den eigenen.
8,8-9 Das Mädchen ist, nach Meinung der Brüder, unreif.
Verhält es sich Liebhabern gegenüber als „Mauer“ oder als „Tor“?
8,10 Die junge Frau ist, nach ihrer Meinung, reif.
Sie ist Mauer, Türme und Stadt, die dem Liebsten ihre Tore öffnet.
8,11-12 Die junge Frau hütet, nach ihrer Entscheidung,
den eigenen Weinberg, nicht mehr den anderer.
Während eine an moralischen Grenzziehungen orientierte Haltung sich darauf fixiert zu sagen, was „vor der Ehe noch nicht sein darf“, eröffnet die Weisheit einen ganzheitlichen Blick auf die Entfaltung des Seins. Es geht um nicht weniger als um das Erwachsenwerden eines Menschen. Dazu gehört, sich schrittweise von der elterlichen Autorität loszulösen, eine eigene Identität aufzubauen, selbst Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Konflikte sind dabei keine störende Nebenerscheinung, sondern sie gehören dazu: Gerade am Konflikt, von der ersten Trotzphase an bis zur Pubertät, reift der Mensch Schritt für Schritt zur Eigenständigkeit heran.
Ein Teil dieses Prozesses ist dann auch die Entwicklung der eigenen Sexualität und Beziehungen zum anderen Geschlecht. Nur wenn Sexualität als Teil dieses größeren Ganzen verstanden wird, kann auch moralisch angemessen über die dabei auftretenden Fragen gesprochen werden.
Was die konkrete ethische Anwendung betrifft, so ist zu beachten, dass sich die Fragestellung des Hohenliedes von der heutigen in zweifacher Weise unterscheidet. Zum einen fallen in der Kultur des Hohenliedes körperliche und soziale Reife zusammen (vgl. 8,10), ein Umstand, der heute aufgrund veränderter Bedingungen nicht gegeben ist. Zum andern fallen im Hohenlied – sofern es holistisch interpretiert wird[1] – der Wunsch nach Sexualität und der Wunsch nach Ehelichung zusammen. Sexualität und Familiengründung wurden damals allein von den biologischen Gegebenheiten her eng verknüpft gedacht. Auch in dieser Hinsicht haben sich die Bedingungen heute verändert.
Mit seinem Anliegen, über die Betrachtung des kulturübergreifenden Phänomens „Erwachsenwerden“ die eigene Reflexion über das richtige „Timing“ anzuregen, hilft uns das Hohelied deswegen tatsächlich mehr, als es das mit der Vorgabe konkreter moralischer Richtlinien tun würde, die ja doch in veränderte kulturelle Situationen hinein übertragen und angepasst werden müssten.
[1] Hochzeitstag und Hochzeitsnacht (Hld 3,6-5,1) bilden dann das strukturelle Zentrum des Buches.
5. Das Hohelied und das „Sollen“ der Sexualität
Das „Wollen“ des Hohenliedes hängt, wie oben argumentiert, mit dem „Sollen“ zusammen. Nach Schleiermacher wird das Wollen des allgemein als vernünftig Anerkannten vom Einzelnen durchaus als ein „Sollen“ empfunden und ausgedrückt.[1] Insofern könnte einiges von dem, was im vorangegangenen Abschnitt argumentiert wurde, unter der neuen Überschrift des „Sollens“ noch einmal wiederholt werden. Ich möchte stattdessen den Begriff „Sollen“ hier in einer eingeschränkten, nicht-schleiermacherischen Weise verwenden, nämlich als Bezug auf moralische Normen, die dem Sein und Wollen des Menschen gegenübergestellt sind bzw. als gegenüberstehend empfunden werden.
[1] Herms, »Sein und Sollen«, 52.
5.1 Moralische Ordnungen als dramaturgische Folie
An zwei Stellen nimmt das Hohelied explizit auf gesellschaftliche moralische Ordnungen Bezug.
- In den beiden (Tag-)Träumen der Protagonistin (Hld 3,1-5 und 5,2-8) erscheinen jeweils Nachtwächter. Sie fungieren symbolisch und auch faktisch als Wächter über Anstand und Moral. Dies wird insbesondere beim zweiten Traum sichtbar, in dem es zu einem Konflikt zwischen dem Verlangen und den gesellschaftlichen Normen kommt, weshalb die Wächter einschreiten müssen.[1]
- Auch in der Beziehungsphantasie[2] 7,14-8,4 kommt die Spannung zwischen dem Ersehnten und dem gesellschaftlich Erlaubten zum Ausdruck: Die Protagonistin wünscht sich, ihr Geliebter wäre „wie ein Bruder für mich“, könnte also im Haus ein- und ausgehen und sie besuchen, ohne dass dies bei Familie und Nachbarn Anstoß erregen würde.
Das Interesse des Hohenliedes liegt allerdings nicht darauf, heteronome Prinzipien zu definieren und zu begründen. Augenscheinlich nehmen die Prinzipien sogar die Rolle des störenden Hindernisses ein. In Wirklichkeit geht es dem Hohenlied aber gerade darum, die Spannung zwischen Wünschen und Ordnungen herauszuarbeiten und diese als ein wesentliches Charakteristikum der sich entwickelnden Liebesbeziehung darzustellen. So wie der Held einer Erzählung erst dadurch zum Held werden kann, dass man ihn der Gefahr aussetzt, lässt sich die Geschichte einer Liebe nur dann spannend erzählen, wenn es Konflikte auszuhalten und Hindernisse zu überwinden gilt.
Die von Hohenlied grundsätzlich als gültig vorausgesetzten moralischen Ordnungen der Gesellschaft bilden hier also eine Folie für die „Dramaturgie der Liebe“.
[1] Hendrik J. Koorevaar, »De boodschap van het boek Hooglied (2): Hartstochtelijke liefde en reinheid«, Magazine voor pastoraat, gezin en gemeenteopbouw 11/47 (2000), 26–32, S. 28f; ähnlich Klaus Seybold, »Zur Sprache des Hohenliedes«, ThZ 55 (1999), 112–120, 116. Zum Wegnehmen des Umhangs siehe Keel, Hoheslied, 183f.
[2] Begriff nach ebd., 238.
5.2 Moralische Ordnungen und das Hohelied im Kontext
Gehört die Sexualität nach dem Hohenlied nun in den Rahmen der Ehe oder nicht? Ich möchte meinen Aufsatz nicht beenden, ohne die eingangs gestellte und inzwischen verschiedentlich problematisierte Frage abschließend doch mit einem Ja zu beantworten.
Tatsächlich verstehen einige Ausleger das Hohelied im Sinne einer gesellschaftskritischen Werbung für die „freie Liebe“. Dies beruht jedoch, wie oben ausgeführt, auf einem Missverständnis des besonderen Modus, unter dem das Hohelied das Thema der Sexualität beobachtend und vermittelnd behandelt.
- Eine historische Exegese muss jedenfalls berücksichtigen, dass die Bedingungen für Sexualität in den Kulturen des Alten Vorderen Orients völlig andere waren als die, die zur „sexuellen Revolution“ der 1968er-Bewegung führten. In einer Zeit, in der Sexualität fast unvermeidbar zur Zeugung von Nachkommen führte und nur klare Familienstrukturen das Überleben des Einzelnen sicherten, kann das Modell „freie Liebe“ überhaupt nicht funktionieren. Es ist nicht anders denkbar, als dass die Liebe zwischen Mann und Frau einen öffentlich-rechtlichen Rahmen bekommt. Dies geht auch aus Israels Gesetzestexten eindeutig hervor. Dass das Hohelied Salomos bewusst etwas anderes vertritt, ist auf diesem Hintergrund sehr unwahrscheinlich.[1]
- Eine kanonische Auslegung berücksichtigt außerdem die Tatsache, dass das Hohelied Salomos nirgends anders überliefert als im Zusammenhang des alttestamentlichen Kanons, und dort wiederum meist in einer Gruppe salomonisch-weisheitlicher Bücher. Im Kanon handeln die Schöpfungstexte und auch das Heiligkeitsgesetz von einem Ideal der Sexualität, dem Abweichungen gegenübergestellt werden. Die weiteren Gesetzestexte benennen vor allem familienbezogene Normen zum Umgang mit der Sexualität. Die Weisheitsliteratur, besonders das Sprüchebuch, bewertet Ehebruch als ein Scheitern im Leben. Die Propheten setzen Treue zum Gottesbund und Treue zum Ehebund miteinander parallel. Auch wenn bei den einzelnen Bücher und Buchgruppen unterschiedliche Akzentsetzungen möglich sind, ist doch die Ansicht, das Hohelied stünde zu den übrigen Weisheitsbüchern und zum übrigen Kanon in einem plumpen Widerspruch, sehr zweifelhaft.
- Auch das Hohelied selbst wird in der Sache konkret. Der Begriff „Hochzeit“ wird zwar nur in 3,11 genannt. Nach der holistischen Interpretation, die von einer Reihe von Auslegern vertreten wird, ist jedoch der gesamte Abschnitt 3,6-5,1 (oder 3,1-5,1) vom Thema der Hochzeit bestimmt. Den Höhepunkt bildet dabei das Lied vom „Garten der Liebe“. An dieser Stelle öffnet die junge Frau ihren bisher verschlossenen (4,12) „Garten“ für den Liebhaber. In der Hochzeitsnacht findet also die erste sexuelle Vereinigung der beiden Partner statt.[2]
Wie verschiedene Ausleger beobachten, spricht das Hohelied zwar nicht von der Institution der Ehe, aber doch von deren Wesen. M. Stadler schreibt: »Das Hld befürwortet stark (hetero-)sexuelle Treue, Ganzheitlichkeit, Verbindlichkeit, Dauerhaftigkeit und Exklusivität«, so dass man durchaus sagen kann: Wenn auch die öffentlich-rechtliche Form der Ehe nicht Gegenstand des Hohenliedes ist, so vermittelt das Lied doch »dem Wesen nach die Werte der christlichen Ehe«.[3]
[1] Tom Gledhill, The Message of the Song of Songs: The Lyrics of Love, The Bible Speaks Today (Nottingham: Inter-Varsity, 1994), 27; Gerhards, Hoheslied, 380-385.
[2] Gledhill, Song of Songs, 168f.
[3] Michael Stadler, »Erlösende Erotik: Ethische Aspekte im Hohenlied«, ZThG 3 (1998), 53–82, 75; 77f; vgl. Davidson, Flame, S. 556-592, und bes. zu 8,6 Gerhards, Hoheslied, 425-429.
6. Abschluss
Es kommt nicht nur darauf an, welche Antworten wir geben, sondern auch, welche Fragen wir stellen. Dies gilt ganz bestimmt im Blick auf den Umgang mit dem Thema Sexualität in der christlichen Gemeinde. Das Hohelied Salomos zeigt mit seinem weisheitlichen Zugang, wie eine sexualethische Engführung vermieden werden kann, ohne dabei die Sexualmoral an sich aufzugeben.
Der weisheitliche Zugang hat zunächst den Vorteil, dass er sich auch in einer postmodernen Kultur vermitteln lässt. Heteronome Prinzipien mögen auf Ablehnung stoßen – die Frage, wie Beziehung zwischen den Geschlechtern gestaltet werden kann, wie die eigene „Geschichte der Liebe“ gelingen kann, beschäftigt Menschen heute nicht weniger als zu biblischen Zeiten.
Gleichwohl geht es um mehr als um Kommunikation. Das Hohelied füllt die sehr bedeutungsvollen und zugleich abstrakten Aussagen der Urgeschichte über Mann und Frau mit Leben. So leistet es die Aufgabe, das Wesen der Sexualität aus schöpfungstheologischer Sicht näher zu bestimmen. Und nur da, wo die menschliche Sexualität an ihrem Ort in der christlichen Theologie gewürdigt wird, kann sinnvoll auch über Abgrenzungen nachgedacht werden.
Zum dritten werden auch die moralische Grenzziehungen von der Weisheit her noch einmal neu und anders motiviert. Nach dem oben erarbeiteten Verständnis vom Gestaltenwollen als einer Entfaltung des Seins hat Ehe eben nicht die Funktion, Sexualität zu kanalisieren und damit zu beschränken. Im Gegenteil, in der Ehe findet die Paarbeziehung ihre bestmögliche Form der Entfaltung. Gebote sollen helfen, den Entfaltungsraum der Ehe zu schützen.